Kongress “Eigensicherung und Schusswaffeneinsatz bei der Polizei”
Frankfurt a. M., 29. und 30. Oktober 2002


“Nicht nur Debriefing - Polizeiseelsorge und Schusswaffeneinsatz”

Vortrag von Frank Rutkowsky

Meine Damen und Herren,

ich möchte Ihnen zunächst berichten, welches Betreuungsangebot wir in Hamburg für Polizistinnen und Polizisten vorhalten, die eine Schusswaffe benutzt haben. Danach nenne ich einige Themen, die mir aus Gesprächen mit Betroffenen besonders in Erinnerung sind. Anschließend werde ich erklären, was ich als meine Rolle in diesen Gesprächen verstehe, und zuletzt will ich auf die “Gretchenfrage” eingehen, die mir manchmal gestellt wird: “Wie hast du‘s mit der Religion?” D.h.: “Wie unterscheidet sich das, was Sie machen, eigentlich von einer psychologischen oder psychotherapeutischen Gesprächsführung?”

Das Hamburger Beratungs- und Betreuungsteam

In Hamburg haben sich vor sechs Jahren Polizeipsychologen, -ärzte und -seelsorger, sowie einige Leute aus dem Polizeidienst zusammengesetzt, um ein Hilfesystem aufzubauen, das Polizistinnen und Polizisten nach besonderen Belastungen Unterstützung bietet. Es soll dem vorbeugen, was Herr Ohlemacher gerade in seinem Vortrag geschildert hat: Dass manche Beamte, die geschossen haben, später von einer schwer erklärlichen Gereiztheit erfasst werden, schlecht schlafen, familiäre Probleme bekommen und anders mehr.

Abgrenzung zum Debriefing von Mitchell

Wir haben uns dabei natürlich auch mit dem Nachsorge-Konzept von Mitchell befasst, insbesondere mit dem sog. “Debriefing”, das sich in den letzten Jahren sehr verbreitet hat und in der Erstbetreuung fast schon Standard geworden ist. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das normalerweise in Gruppen durchgeführt wird, aber abgewandelt auch in Einzelgesprächen Verwendung findet. Dabei wird ein ganz bestimmtes Frageschema angewendet, das ich hier nur grob skizzieren will: Man beginnt das Gespräch auf einer kognitiven Ebene, geht dann zu den emotionalen Dingen und nimmt schließlich über sachliche Informationen wieder den Ausstieg. Dabei gibt es eine feste Struktur (selbst die Anordnung des Stuhlkreises ist aufgezeichnet), eine genaue Rollenaufteilung unter den Mitgliedern des betreuenden Teams, eine bestimmte Zeit, innerhalb derer die Gespräche stattfinden sollten usw. Zum Betreuer-Team gehören sogenannte “Peers”, das sind Angehörige der betroffenen Berufsgruppe, in unserem Fall wären das Polizist/inn/en, die in einigen Tagen dafür geschult worden sind, dem Fachmann zur Seite zu stehen. Sie sollen zwischen ihm und der Berufsgruppe, die betreut wird, eine Brücke schlagen.

Wir haben uns in Hamburg entschieden, nicht nach diesem Konzept zu arbeiten, obwohl es einiges für sich hat und wir auch gewisse Elemente davon aufgenommen haben. Mitchell gebührt ja das große Verdienst, das Thema der posttraumatischen Belastungsreaktion im allgemeinen Bewusstsein zur Geltung gebracht zu haben, so dass es heute in allen Länderpolizeien Bemühungen gibt, Polizistinnen und Polizisten nach extremen Einsätzen eine Betreuung zu bieten. Mitchell hat mit seiner Methode vielen Menschen ermöglicht, sich in diese Thematik auf eine einfach zu vermittelnde Weise hineinzudenken, und die Tatsache, dass er damit eine Art Monopol errungen hat, hat durchaus einen Vorteil: Wenn nach Großschadensereignissen viele Betreuer zusammenarbeiten müssen, können sie sich meist alle auf Mitchell beziehen und zügig an die Arbeit gehen.

Man muss aber auch die Nachteile sehen: Zum einen gibt es Bedenken gegen die Anwendung des Debriefings, die meines Erachtens zu wenig diskutiert werden. So nennt I. Carlier mehrere Untersuchungen, die den Verdacht nahelegen, das Debriefing könne sich sogar schädlich auswirken, weil es u. U. eine negative suggestive Wirkung auf die Teilnehmer der Gesprächsrunden ausübe und weil es in einer Gruppe durch die Menge von Erlebnisberichten zu einer sekundären Traumatisierung kommen könne.

Zum anderen sehe ich bei dieser Methode, zumindest in der Form, wie sie in Deutschland gelehrt wird, die Gefahr des Schematismus. Das Verfahren leiht zwar Helfern, die in Gesprächsführung unerfahren sind, eine gewisse Sicherheit, aber genau darin liegt auch ein Problem. Kollegen haben mir erzählt - ich karikiere ein bisschen - es könne durchaus vorkommen, dass einem Gruppenteilnehmer, der in Tränen ausbricht, gesagt wird: “Das ist jetzt noch nicht dran. Wir sind noch in der Tatsachenphase.”

Außerdem finde ich die Schulung der Helfer zu oberflächlich. Unter anderem fehlt darin das Selbsterfahrungselement. Das birgt die Gefahr, dass sie mit unbewussten Zielvorgaben tätig sind, die sich ungünstig auf ihre Arbeit auswirken. Das wird vor allem zum Problem, wenn Gruppen von Peers, wie in manchen Polizeien leider üblich, ohne Fachkraft als Leitungsperson eingesetzt werden. Da wird ihnen eine Kompetenz zugeschrieben, die sie einfach nicht haben können.

Das wichtigste Argument, wenn es um den Schusswaffengebrauch geht, lag für uns aber im Problem des Zeugnisverweigerungsrechts. Peers aus dem Polizeibereich sind eben auch Polizisten mit dem Strafverfolgungszwang, und da ein Beamter, der die Schusswaffe gebrauchen musste, immer sofort im Mittelpunkt von Ermittlungen steht, wird er es sich, wenn ihn Zweifel bezüglich des Einsatzes plagen, gut überlegen, ob er sich einem Polizisten anvertraut.

Arbeitsweise

Dies alles hat uns in Hamburg zu dem Entschluss geführt: Wir machen die gesamte Beratungsarbeit selber. Einer von uns ist immer zu erreichen, wenn ein besonders belastendes Ereignis einen Polizisten trifft.

Dabei kommt uns natürlich die besondere Situation im Stadtstaat mit seinen kurzen Wegen entgegen und auch die Tatsache, dass wir gut in der Polizei bekannt und mit der Polizeiarbeit vertraut sind, so dass wir glauben, des Brückenschlags durch Peers entbehren zu können.

In knapp fünf Jahren haben wir 36 solcher Einsätze gehabt - elf davon nach dem Gebrauch der Schusswaffe durch Polizisten.

Sobald ein solches Ereignis stattgefunden hat, fährt jemand von uns an die Dienststelle und bietet dem Betroffenen ein Erstgespräch an. Dort herrscht zwar oft eine ziemliche Aufregung - die Mordkommission ist im Anmarsch, die Chefs reisen an, die Presse drückt an die Tür usw. -, so dass es manchmal schwierig ist, nur einen ruhigen Raum zu finden, aber meistens gelingt es doch.

In der Planungsphase waren wir noch nicht sicher, ob es sinnvoll sein würde, so schnell zum Gespräch zu kommen. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass das von den Polizisten geschätzt wird. Sie empfinden es als eine Unterstützung, die auch symbolischen Wert hat: “Mir ist etwas passiert und die Organisation kümmert sich um mich.”

Am Ende dieses Erstgesprächs verabreden wir meistens ein zweites Treffen. Es sollte nach zwei bis vier Tagen stattfinden, wenn sich alles ein wenig gelegt - oder auch weiter aufgebaut hat. Im Erstgespräch kann ein Polizeibeamter oft noch nicht einschätzen, wie die Sache auf ihn wirkt. Aber nach ein paar Tagen hat er ein genaueres Gefühl für sich selbst und weiß auch in etwa, welchen Verlauf die Angelegenheit nimmt.

Möglicherweise führe ich noch ein drittes oder viertes Gespräch, einmal haben wir auch eine externe Therapie vermittelt, aber im Normalfall reichen diese zwei Treffen zunächst.

Außerdem lade ich einmal im Jahr alle Polizistinnen und Polizisten, die wir im Lauf der vergangenen Monate betreut haben, zu einem Gruppengespräch ein. Dort können sie einander erzählen, wie es ihnen mit ihrer Erfahrung gegangen ist. Es dauert, je nach Teilnehmerzahl, einen halben bis einen ganzen Tag.

Ein letztes Angebot fällt allein in meine Verantwortung als Seelsorger: Ich halte in Hamburg einmal im Jahr einen großen Adventsgottesdienst für die Polizei. Darin gibt es eine kleine Zeremonie: Man kann eine Kerze anzünden, um eine Bitte oder einen Dank auszudrücken. Auf die Idee dazu bin ich durch ein Gespräch gekommen, das ich nachher noch schildern werde. Zu diesem Gottesdienst lade ich auch die Beamten ein, mit denen wir im Laufe des Jahres zu tun gehabt haben, weil das nach meinem Eindruck ebenfalls helfen kann, mit einem belastenden Erlebnis fertig zu werden.

Das Erstgespräch

Beamte, die gerade einen Schusswaffeneinsatz hinter sich haben und nun mit mir darüber sprechen, sind oft in mehrfacher Weise von Unsicherheit ergriffen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: Dann geht jemand verhältnismäßig ruhig mit seinem Einsatz um, ohne dass ich den Eindruck habe, hier werde etwas verdrängt. Aber meist spüre ich Aufregung und Verunsicherung oder sogar Erschütterung:

Nicht selten sind die Beamten über Ihre körperlichen Reaktionen überrascht. Sie haben den Einsatz entschlossen und scheinbar kaltblütig abgewickelt, sie haben präzise geschossen, hinterher noch über Funk eine klare Meldung abgesetzt und später auch von Kollegen gehört: “Das hast du ja cool hingekriegt!” Aber wenn alle Anforderungen abgearbeitet sind, kann es sein, dass plötzlich ein Zittern einsetzt, vielleicht auch Übelkeit bis hin zum Erbrechen oder eine allgemeine Schwäche. Diese Zustände überfallen den Beamten möglicherweise wie eine fremde Macht. Er hat vielleicht noch nie erlebt, dass es ihm so gehen kann, und das macht einen Teil seiner Unsicherheit aus.

Er ist sich aber vielleicht auch schon im Einsatz fremd gewesen. Er hat sich gleichsam über die Schulter geguckt, alles wie im Film gesehen und möglicherweise seinen eigenen Schuss mit Staunen gehört. Er kann manchmal nicht sagen, wie oft er geschossen hat. Alles ist automatisch abgelaufen. Solche Fremdheit dem eigenen Handeln gegenüber irritiert natürlich.

Sie kann sich, je nachdem, wie die Sache ausgegangen ist, im weiteren Verlauf verschieden auswirken. Ich kenne Beamte, die irgendwann den Schluss gezogen haben: “Eigentlich toll ­- alles ist wie von selbst gelaufen: Ich habe die Waffe ohne bewussten Vorsatz gezogen, wie im Training geschossen, und es hat perfekt geklappt. Offenbar kann ich mich auf meine Ausbildung und auf mich selbst verlassen.” Das führt zu einem gestärkten Selbstvertrauen.

Erschüttert wird das Selbstvertrauen hingegen, wenn einer genauso automatisch daneben geschossen hat, und ganz kompliziert wird es, wenn der Beamte zwar daneben geschossen hat, sich jedoch im Nachhinein herausstellt, dass der andere nur eine Gaspistole auf ihn gerichtet hatte. Wie soll man da die eigene Fehlleistung bewerten? Man ist gleichzeitig verunsichert und erleichtert.

Eine nicht leicht zu beschreibende Bedeutung hat, was ich den “metaphysischen Schrecken” nenne. Nach meinem Eindruck wird ja fast nur noch geschossen, wenn Lebensgefahr im Spiel ist. Und gerade Schutzpolizist/inn/en wissen: Es sind oft scheinbar banale Einsätze, die plötzlich alles auf die Kippe stellen. Nun wissen wir zwar alle, dass das Leben eine zerbrechliche Angelegenheit ist, aber es ist etwas ganz anderes, mit einem Mal wirklich in den Abgrund zu blicken. Solche Erfahrung kann lange nachwirken und weitreichende Fragen ans eigene Leben mit sich führen.

Andere, manchmal quälende, Fragen kommen hinzu, wenn der Beamte getötet oder auch nur beinahe getötet hat. Es wird ja niemand Polizist, um andere zu erschießen. Ein Beamter, dem das widerfahren ist, sagte zu mir: “Ich bin auch wütend auf diesen Menschen, (neben manchen anderen Gefühlen) weil er mich gezwungen hat, das zu tun. Mein Leben ist jetzt einfach nicht mehr das gleiche wie vorher.”

Wenn ein Beamter zurück kommt, nachdem er geschossen hat, wird ihm die Waffe weg genommen und die Mordkommission ermittelt. Das ist ein enormer Statuswechsel. Psychoanalytisch könnte man scherzhaft sagen, die Wegnahme der Waffe sei ein Entmannungsvorgang. Ich finde, sie ist vor allem ein Statusverlust. Es ist nicht leicht, plötzlich auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen und den ganzen Apparat, in dem man sonst arbeitet, gewissermaßen auf sich gerichtet zu fühlen. Da werden die Sensoren ganz empfindlich: Wie sehen mich die Kollegen jetzt, was höre ich an Zwischentönen heraus, wie sprechen die Vorgesetzen mit mir? Ist meine Karriere in Gefahr usw.?

Was die Kollegenäußerungen betrifft, die in den ersten Stunden fallen, muss ich übrigens leider sagen: Sie sind oft furchtbar. Da gibt es gut gemeinte Sprüche wie “Willkommen im Club!” oder “Hättest du ihm doch gleich in den Kopf geschossen.” Das ist gut gemeint, weil man dem Kollegen damit signalisieren will: “Es ist in Ordnung, dass Du geschossen hast.” Aber wer von einem solchen Einsatz zurück kommt und dabei ist, seine widersprüchlichen Empfindungen zu sortieren, kann solche Sprüche nicht brauchen. Ein Beamter erzählte mir: “Ich habe entweder nur verlegenes Um-mich-Herumschleichen mitbekommen oder unpassende Sätze. Die einzige, die es richtig gemacht hat, war eine Praktikantin. Sie hat schlicht und einfach gefragt: “Kollege, wie geht‘s dir denn?” Das war eine gute Frage.

Als Letztes werden in unseren Erstgesprächen ein paar ganz praktische Dinge angesprochen, die man bewusst regeln sollte, damit man nicht in irgend etwas hineinläuft: Lässt man sich gleich vernehmen, oder bittet man darum, dass das später gemacht wird? Schreibt man heute noch einen Bericht oder lieber am nächsten oder übernächsten Tag? Nimmt man dienstfrei, oder will man in der nächsten Schicht unbedingt dabei sein? Wie kommt man nach Hause? usf.

Das Zweitgespräch

Bis zum Zweitgespräch entwickelt sich vieles weiter: Die Reaktionen der Kollegen und des Apparats sind inzwischen deutlicher. Man hat eine Ahnung davon, welchen Gang die Untersuchungen nehmen - ob man unbeschadet aus der Sache heraus kommen wird, oder ob man vielleicht einen dicken Prozess am Hals haben wird usw.

Eine große Rolle spielt natürlich, ob derjenige, auf den ich geschossen habe, gestorben ist. Aber auch: Wie hat die Presse reagiert? Werde ich als “Killer” dargestellt? Wird der Fall überhaupt richtig dargestellt? Wird er groß oder klein aufgemacht? Können die Nachbarn erkennen, dass ich der Schütze war? Das alles sind Umstände, die Einfluss auf mein Lebensgefühl ausüben. Mir erzählte einmal ein Beamter, der einen spektakulären Schusswaffeneinsatz gehabt hatte, er sei hinterher, weil ihm rechtlich alles ganz klar zu sein schien, nach Hause gegangen, habe gebadet und dann auch fest geschlafen. Erst als er am nächsten Tag zum Dienst habe gehen wollen und am Kiosk die BILD-Zeitung gesehen habe, in der das der Aufmacher war, sei ihm aufgegangen, in was für eine Geschichte er geraten war. Er habe die Zeitung gekauft und sei wieder umgekehrt. So begann eine lange und schmerzhafte Auseinandersetzung.

Nach Träumen erkundige ich mich immer. Daran habe ich auch sonst in meiner Seelsorge großes Interesse, aber in diesem Zusammenhang ist es auf jeden Fall von Bedeutung, ob ein Polizist z.B. Alpträume gehabt hat. In ihnen wird die Situation oft vergröbert und verschlimmert dargestellt, um brutale Details angereichert - was unterstreicht, dass der Vorfall den Beamten sehr beschäftigt und, vielleicht entgegen der bewussten Haltung, längst nicht erledigt ist. Eventuell kommen auch Träume, die man tiefenpsychologisch deuten muss - als Hinweis auf im Hintergrund liegende Lebensfragen, die durch einen solchen Vorgang aufgerührt worden sind.

Aber auch im Wachen werden die entscheidenden Sekunden immer wieder durchgespielt: Hätte es auch anders laufen können? Habe ich etwas übersehen? Dabei geht es um eine innere Klärung der Schuldfrage, aber auch um fachliche Aspekte. Wenn mehrere Polizisten beteiligt sind, haben sie oft den Wunsch, miteinander zu besprechen: Wie ist die Situation entstanden? Hätten wir etwas besser machen können? Was können wir daraus lernen?

Ein Problem ist: Manche dieser Fragen verlangen danach, so oft bedacht zu werden, dass es auch für ein lieben und geduldigen Ehepartner strapaziös werden kann, sich mit ihnen zu befassen. Daraus erwächst für den, der sie nun mal hat, die Gefahr einer gewissen Einsamkeit. Er will dem anderen ja nicht auf die Nerven fallen, aber im Stillen beschäftigt ihn die Sache weiter.

Im Grunde kreist alles um die Frage: Wie kann ich dieses Ereignis in mein Leben integrieren? Psychologen sagen dazu “verarbeiten”. Auch Polizist/inn/en drücken es oft so aus: “Ich habe das verarbeitet.” Manchmal versteckt sich darin jedoch ein Missverständnis, wenn nämlich “Verarbeiten” gleichgesetzt wird mit “weg arbeiten”. Ich glaube dagegen: Wenn man ein schlimmes Ereignis erlebt hat, kann man es nicht los werden, gleichsam herausschneiden, sondern die Aufgabe besteht darin, es ins eigene Leben einzubetten - und zwar so, dass es sich nicht mehr schädlich auswirkt.

Ein Beamter erzählte mir: “Wie ich mich damals erlebt habe - das hat mich hinterher erschreckt.” Für ihn stand mit einem Mal die Frage im Raum, ob er vielleicht ein ganz anderer Mensch sei, als er bis dahin gedacht hatte.

Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen kann lange dauern, denn unser Selbstbild zu verändern, braucht Zeit und Geduld und eventuell auch Begleitung. Damit - um noch einmal auf das Debriefing zu kommen - wären Peers hoffnungslos überfordert. Das wissen sie ja auch selbst, aber eben deswegen ist es auch wünschenswert, möglichst von vornherein eine Begleitung anzubieten, die um diese Dimensionen weiß. Und natürlich stellen sich auch ethische Fragen. “Durfte ich das überhaupt tun?” Vielleicht auch: “Was sagen Sie als Pfarrer dazu?”

Ein Polizist berichtete mir, was in ihm vorging, als er einem Geiselnehmer gegenübersaß. Beide hatten ihre Waffe gezogen, keiner durfte eine unbedachte Bewegung machen. Weil die Lage für die Geisel immer bedrohlicher wurde, beschloss der Polizist, den finalen Rettungsschuss abzugeben, falls sich die Gelegenheit dazu bieten würde. Gleichzeitig führte er einen “ethischen Diskurs” in sich. Er machte sich klar, dass er das - trotz eines vorhergegangenen schrecklichen Verbrechens - ohne Rachegefühle tun würde. Er sagte sich: “Ich tue das nicht aus Hass, ich will nur die Geisel retten. Und: Eigentlich will ich ihn nicht töten.” Das Verblüffende war: Er hat geschossen, und der andere ist tatsächlich nicht gestorben, obwohl das ganz unwahrscheinlich war. Mich hat aber vor allem beeindruckt, dass ein Polizeibeamter in dieser höchsten Anspannung noch eine solche moralische Unterscheidung vornehmen konnte.

So etwas ist hinterher natürlich auch Gesprächsthema. Leider ist es aber für Polizisten oft schwer, mit Kollegen über solche Dinge zu reden. Schön wäre es, wenn das anders wäre.

Gruppengespräche

Eine weitere gute Möglichkeit der Nachbereitung habe ich noch nicht erwähnt: etwa zu Beginn der nächsten Schicht mit der ganzen Dienstgruppe zu sprechen. Die Kolleg/inn/en haben ja ebenfalls vieles miteinander zu bereden, und der hauptsächlich betroffene Polizist möchte umgekehrt nicht jedem einzelnen seine ganze Geschichte erzählen. Dieses Problem kann man abschwächen, wenn er das beim nächsten Dienstbeginn tut. Dann hat er seiner Informationspflicht genügt, und die anderen können besprechen, wie sie das Ereignis erlebt haben. Es stehen ja oft noch wichtige Fragen im Raum: Ist der Einsatz richtig gelaufen? Wie haben die anderen den Ablauf wahrgenommen? Hat jemand jemanden im Stich gelassen? usw.

Außerdem finde ich solche Gruppengespräche in einem prinzipiellen Sinne wichtig: Das, was Seelsorger oder Psychologen in solchen Fällen leisten können, ist nämlich höchstens die halbe Miete. Mindestens so wichtig ist das Gruppenklima, das in einer Dienstgruppe herrscht, die Gesprächskultur, in der sich Polizistinnen und Polizisten bewegen. Wenn eine Dienstgruppe es schafft, über einen solchen Einsatz ehrlich und einfühlsam zu sprechen, ist viel gewonnen.

Zum Gruppengespräch nach einigen Monaten lade ich auch deshalb ein, weil ich gerne wissen möchte, was aus den Leuten geworden ist. Aber vor allem können die Betroffenen aus einem gewissen Abstand überlegen: “Wie hat sich dieses Ereignis in meinem Leben ausgewirkt? Hat es fortdauernden Schaden angerichtet, oder bin ich darüber hinweg? Habe ich etwas daraus gelernt?” usw. Dabei hilft es, sich mit Kolleg/inn/en auszutauschen, die etwas ähnlich Einschneidendes erlebt haben. Und wenn wir zum Abschluss gemeinsam essen gehen, feiern wir wohl auch ein wenig, dass wir, dass die beteiligten Beamt/inn/en am Leben sind.

Die Aufgabe des Seelsorgers

Bei all dem geht nicht darum, Tipps zu geben, und nur in geringem Maße darum, Informationen und Wissen zu vermitteln. In erster Linie will ich einen Raum zur Verfügung stellen, in dem das, was die Beamten bewegt, wirklich zur Sprache kommen kann - auch Zweifel, Scham, kritische Überlegungen, Irritationen, Emotionen, vielleicht auch einmal Tränen und eben auch die rechtlichen Zweideutigkeiten, die ein Vorgang haben mag.

Dabei kommt es, wie auch sonst in der Seelsorge, vor allem darauf an, gemeinsam in Ruhe zu betrachten, was auf dem Tisch liegt. Dass ich nicht erschrecke, gleich widerspreche oder trösten oder aufmuntern will. Der Beamte soll mit seinen Fragen zu Rate gehen können. Die werden sich entwickeln, wenn dafür Raum vorhanden ist.

Indem ich versuche zu verstehen, was mein Gesprächspartner letztlich, eigentlich erzählen will, fördere ich, dass er das selber versteht. Das ist eine Grundbedingung dafür, dass ein Ereignis ins Leben hinein kommen, dass es angenommen werden kann als etwas, mit dem man künftig leben wird. Zu solchem Verstehen gehören eventuell auch ein paar Hintergrundinformationen, aber am wichtigsten ist die Haltung: Ich bemühe mich gemeinsam mit dem anderen darum, dass er sich selbst versteht.

Wenn Sie mich nach einem Gesprächstipp für den Umgang mit Kollegen fragen würden, würde ich Ihnen das Gleiche sagen: Versuchen Sie, schlicht und einfach zuzuhören und zu verstehen, was ihren Kollegen bewegt. Denken Sie nicht, das sei wenig. Auch wenn sie keinen Ratschlag haben: Wenn Sie versuchen zu verstehen, ist das viel.

“Wie hast du’s mit der Religion?”

Zum Schluss: Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass ich nicht Psychologe bin, sondern Seelsorger, also Pastor? Ich werde das öfter gefragt und weiß, dass die Frage verschiedene Bedeutungen haben kann. Eine ist: Wo haben Sie als Nicht-Psychologe eigentlich die Qualifikation her, auf diesem Feld zu arbeiten?

Das andere ist eine Besorgnis: “Kann ich als Atheist zu Ihnen kommen, ohne mich religiös bedrängt fühlen zu müssen?”

Oder es steckt eine Erwartung darin: “Haben Sie auch noch etwas anderes als ein Psychologe zu bieten?”

Die erste Frage überspringe ich aus Zeitgründen. Zu den anderen beiden möchte ich sagen: Es entspricht mir von meinem ganzen Naturell her nicht, Gespräche ständig mit der Bibel in der Hand zu führen, und ich fände es auch methodisch töricht, das zu tun. Deswegen halte ich mich da sehr zurück.

Aber es wäre natürlich auch schlecht, wenn ich nicht hören würde, ob mein Gesprächspartner ein Glaubensthema anrührt. Wenn er gerade in Todesgefahr war und ihm das Leben wieder geschenkt worden ist - um es jetzt schon einmal religiös zu formulieren -, kann ihn das doch so bewegen, dass er einen religiösen Satz sagen oder hören möchte. Allerdings sind wir auf diesem Gebiet heutzutage ziemlich verklemmt oder auch ungeübt, und mancher hat große Schwierigkeiten, einen solchen Wunsch zuzugeben. Dann muss ich an zarten Andeutungen erkennen, dass so etwas heraus will.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Frau, die einen Verkehrsunfall miterlebt hatte. Sie hatte dort erste Hilfe geleistet, und in ihrem Beisein war jemand von den Verletzten gestorben. Dann waren die Rettungskräfte gekommen und hatten sich nicht um den verstorbenen Menschen gekümmert, sondern nur um die anderen, bei denen noch etwas zu machen war. Über den Leichnam wurde buchstäblich hinweg gegangen. Das hat diese Frau sehr beschäftigt, deswegen hat sie das Gespräch mit mir gesucht. Während sie erzählte, sagte sie zwei- oder dreimal: “Aber ich bin ja nicht religiös.” Das ragte jedesmal wie eine einsame Spitze aus dem übrigen heraus, und ich fragte mich: “Warum sagt sie das?” Schließlich hatte ich eine Idee und sagte: “Mir scheint, das Schlimmste an diesem Ereignis ist für Sie, dass dieser Mensch keinen würdigen Abschied bekommen hat, und dass Sie ihm diesen Abschied nicht geben konnten, die Sie ihn doch in seinen letzten Minuten begleitet haben. Wie wäre es, wenn Sie in die Kirche da drüben gingen und für diesen Menschen eine Kerze anzündeten?” Nun - so gut lösen sich die Dinge in der Seelsorge natürlich selten, aber wie ich an der Erleichterung der Frau erkennen konnte, hatte ich das Richtige getroffen: Sie suchte nach einer Möglichkeit, Abschied zu begehen. Das musste ich jedoch aus einem Satz heraushören, der scheinbar das Gegenteil ausdrückte: “Ich bin ja nicht religiös.” Darunter lag: “Irgend etwas gibt es doch bei euch, das mir jetzt helfen würde.”

So etwas muss ich natürlich hören, und dafür haben wir in der Kirche ja auch einen großen Schatz an Bildern, Texten und Ritualen, die demjenigen, dem sie etwas sagen, eine Hilfe sein können. Das würde ich Ihnen jetzt gerne noch an einem Text von Antonovsky und dem Psalm 23 zeigen. Aber die Zeit ist zu knapp. Das soll’s gewesen sein.

Vielen Dank.

Frank Rutkowsky   e-mail